Interview mit Oliver Mirring
ERNEUERUNG ALS KONTINUUM
Meldungen über Konflikte, Krisen, Kriege, Inflation, Klimawandel und die damit verbundenen sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen bestimmen derzeit unseren Alltag. Welche zentrale Aufgabe sehen Sie, Herr Mirring, in diesem Spannungsfeld für den DJH-Landesverband Rheinland.
Oliver Mirring: Ich freue mich, dass es uns immer wieder gelingt, Familien, Kinder und Jugendliche in großer Zahl zu erreichen, ihnen wundervolle Erlebnisse und Erfahrungen zu ermöglichen und sie zu begeistern. In diesen herausfordernden Zeiten ist ein stabiles Wertesystem gefragt. Für unsere Arbeit heißt das: Den bewährten traditionellen Grundsätzen treu bleiben und diese durch dynamische Transformationsprozesse anzupassen, damit sie stets relevant bleiben. Dass uns dies gelingt, zeigen die aktuellen Mitgliederzahlen, denn in 2024 durften wir noch einmal 4.087 neue Mitglieder im DJH-Landesverband Rheinland begrüßen und sind mit nunmehr 334.409 Mitgliedern erneut der zweitgrößte DJH-Verband Deutschlands – ein echt starkes Vertrauenssignal! Dieses Vertrauen zeigt sich außerdem sehr deutlich in unseren Übernachtungszahlen. 2024 bewegten sie sich mit 981.442 Übernachtungen wieder stabil um die Millionengrenze. Dieser Erfolg fußt ganz wesentlich darauf, dass wir als DJH-Landesverband seit über 100 Jahren ganz klar Position beziehen für klare Werte und Traditionen: Gemeinschaft ermöglichen und Verantwortung für das Gemeinwohl übernehmen. Die Gemeinschaftserlebnisse von damals sind allerdings nicht die Familienfreizeiten von heute und auch nicht die erlebnispädagogischen Programme von übermorgen. Unser Auftrag ist klar: Wir müssen stets achtsam sein und den aktuellen Gästebedarf im gegenwärtigen Zeitkontext aufgreifen, um zeitgemäße und inspirierende Gemeinschaftserlebnisse zu ermöglichen. Will sagen: Nicht in der Nostalgie von Hagebuttentee und Gemeinschaftsduschen zu verharren, sondern glutenfrei zu kochen oder mit Waldsofas und E-Bike-Ladeschränken in modernen Gästekomfort zu investieren. Wir prüfen also kontinuierlich, wie wir unsere Werte und Traditionen im 21. Jahrhundert zeitgemäß leben und dynamisch in die Zukunft übersetzen können.
Wie gelingt es, 32 Jugendherbergen zu transformieren? Welche konkreten Beispiele gibt es?
Oliver Mirring: Am Anfang steht dazu der erklärte Wille des Vorstands, unsere Jugendherbergen immer wieder neu zu denken. Als eines unserer ältesten Häuser ist die Jugendherberge Köln-Deutz ein gutes Beispiel dafür, welche Kontinuität die Transformation im DJH-Landesverband Rheinland hat: Seit 1928 in Köln-Deutz verortet, entstand 1960 ein Neubau an ihrem jetzigen Standort, den wir um das Jahr 2000 aufwändig modernisiert und erweitert haben. Seit 2024 hat die Jugendherberge Köln-Deutz eine PV-Anlage und erhält nun, mehr als 20 Jahre später, ein komplett neues Gestaltungskonzept, das sich am Profil des Hauses und dem Standort Köln orientiert. Ähnliches gilt für den Standort Kevelaer. Hier haben wir im Zuge eines kreativen und ergebnisoffenen Prozesses eine innovative Neukonzeption in Gang gesetzt, um eine Jugendherberge komplett unter nachhaltigen Gesichtspunkten zu entwickeln. Jugendherbergen neu denken, heißt auch die angestrebte Klimaneutralität des DJH-Landesverbands Rheinland bis 2030 voranzutreiben. Indem wir – wie 2024 geschehen – weitere fünf Jugendherbergen mit Photovoltaikanlagen ausstatten, erneuern wir nicht nur den Status Quo, sondern ändern unsere Energieversorgung grundlegend – gerade arbeiten wir daran, die Jugendherberge Gemünd Vogelsang zur ersten klimaneutralen Jugendherberge im Landesverband zu entwickeln. Auch unseren internen Strategieprozess haben wir 2024 wieder aufgenommen. Denn: Transformation ist ein Prozess tiefgreifender und komplexer Veränderungen, bei dem wir all unsere Traditionen, Leistungsversprechen, Angebote und Arbeitsroutinen zukunftsorientiert auf den Prüfstand stellen. In diesem Rahmen diskutieren wir unter anderem Fragen zur inneren Verfasstheit unseres Landesverbands und loten verschiedene Modelle für die Lenkungsebene aus. Ganz besonders freue ich mich in diesem Zusammenhang, dass Steffen Minas Anfang 2024 als mein Stellvertreter in die Geschäftsführung berufen wurde. Als ehemaliger Leiter der Jugendherberge Köln-Riehl kennt er die Arbeit „an der Basis“ und den Verband wie kaum ein anderer.
Erklärtes Ziel des DJH-Landesverbands Rheinland ist das möglichst umfassende nachhaltiges Wirtschaften. Wo stehen die Jugendherbergen im Rheinland gerade?
Oliver Mirring: Auf die Investition in erneuerbare Energien bin ich bereits eingegangen. Um nachhaltig wirtschaftlich zu bestehen, prüfen wir unser Handeln auf seinen ökologischen, sozialen und ökonomischen Impact. 2024 haben wir uns dazu dem ESG-Verfahren gestellt, dessen Ergebnisse wir in einem Nachhaltigkeitsbericht zusammengefasst haben. Hier sind wir übrigens Pioniere, denn der DJH-Landesverband Rheinland ist der erste DJH-Landesverband, der einen Nachhaltigkeitsbericht nach dem Deutschen Nachhaltigkeitskodex erstellt hat. An diesem Gemeinschaftsprojekt mitgewirkt haben neben der Geschäftsführung auch Mitarbeitende, Regionalleiter, Abteilungsleiter und Herbergsleitungen. Ein externer Guide hat uns dabei beratend begleitet. Der Bericht befindet sich derzeit in der Zertifizierungsphase der prüfenden Gesellschaft und wird in Kürze publiziert.
Alle sprechen von Digitalisierung. Spielt sie bei der Transformation der Jugendherbergen auch eine Rolle?
Oliver Mirring: Eine zentrale Rolle sogar, denn wir digitalisieren mit dem Ziel, unseren Gästen mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmen zu können. Neue Technologien helfen uns, Prozesse zu vereinfachen und zu verschlanken und verschaffen uns Freiräume, von denen unsere Gäste von der Beratung über die Buchung bis zum Service vor Ort profitieren. Ein gutes Beispiel ist die Einführung eines neuen Infoportals und Buchungs-Netzwerks, das eine wichtige Schnittstelle zwischen den Jugendherbergen und unserem Service-Center sein wird. Es bildet alle Angebote zielgruppengenau ab, zeigt den Status-Quo der Jugendherbergen live an und garantiert neben der effektiven Ressourcenverwaltung vor allem eine qualitätvollere Beratung zu Programmen wie etwa Klassenfahrten oder Familienfreizeiten. Nach einer Testphase in 2024 ist es das Ziel in 2025 sukzessive alle 32 Jugendherbergen in das neue System zu integrieren. Ein zweites großes Digitalisierungs-Projekt war 2024 die Implementierung eines Dokumentenmanagement-Systems (DMS). Es optimiert die intelligente Verwaltung von Daten und das rechtskonforme Archivieren von Dokumenten, so dass viel „Lauf- und Sucharbeit“ wegfällt, was zum Beispiel die Mitarbeitenden der Buchhaltung entlastet. Die Einführung neuer digitaler Systeme trägt zur Effizienzsteigerung in verschiedenen Arbeitsprozessen bei und schafft damit mehr Zeit und Raum für das Wesentliche unserer Arbeit: die Schaffung nachhaltiger Gästeerlebnisse und Begegnungen.
Wie definieren Sie Ihre gesellschaftliche und soziale Verantwortung in einer Zeit, in der auch von einer Multikrise mit einhergehendem Wertewandel die Rede ist?
Oliver Mirring: Bezugnehmend auf unsere Satzung sind wir dem Gemeinwohl verpflichtet, damit verbunden ist ein Qualitätsversprechen, pädagogische Konzepte und Angebote immer aktuell auf soziale Lernbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen anzupassen. Unsere zentralen Fragen lauten deshalb heute: Was machen die geopolitischen und gesellschaftlichen Veränderungen oder die wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche mit unseren Gästen? Die Corona-Pandemie hat uns zum Beispiel gelehrt, dass junge Menschen Programme für mehr Teamfähigkeit und Resilienz benötigen. Aktuelle Studien bescheinigen Grundschulkindern in Deutschland einen erheblichen Mangel an Schreib- und Lesekompetenz. Hier steuern wir programmatisch entgegen, indem wir uns mit einem neuen Produkt „Lernreise“ an dem von der Bundesregierung initiierten Start-Chancen-Projekt zur gezielten Förderung dieser Kompetenzen beteiligen.
Auch Inklusion betrachten wir, wenn Sie nach sozialer Verantwortung fragen, als eine wichtige Aufgabe. Das Thema ist in § 4 unserer Satzung fest verankert. Deshalb machen wir für Gäste mit Beeinträchtigung zahlreiche barrierefreie Angebote. Darüber hinaus sind wir auch inklusiver Arbeitgeber und beschäftigen in Kooperation mit Inklusionsdienstleistern mittlerweile 46 Menschen mit Handicap. Um unsere positiven Erfahrungen zu teilen, haben sich die Jugendherbergen im Rheinland 2022 unter der Federführung von Steffen Minas zu dem Verein „Inklusives Unternehmensnetzwerk e.V.“ zusammengeschlossen. Hier finden sowohl Firmen, die an inklusiven Arbeitsplätzen interessiert sind, als auch Menschen mit Behinderung auf ihrer Jobsuche kompetente Unterstützung.
Klimaneutralität, neue Herbergskonzepte und die Fortführung des Strategieprozesses: Die Agenda ist lang. Wie geht das Jahr 2025 für die Jugendherbergen im Rheinland weiter?
Oliver Mirring: Die aktuellen Reservierungs- und Buchungszahlen stimmen mich optimistisch. Auch die Energie, mit der wir verbandsintern über Strategien und Veränderungen in der Organisationsstruktur diskutieren, ist beflügelnd. Die angestoßenen Prozesse werden wir 2025 fortführen: weiter in die Energiewende, den Gästekomfort und die Entwicklung junger Menschen investieren – und weiter für erlebnisreiche Gemeinschaftserlebnisse sorgen. Transformation bleibt ein kontinuierlicher Prozess, der die strategische Perspektive ebenso braucht wie Herz, Seele und Verstand in der jeweiligen Situation.