„Wir suchen den ganz klassischen Gruppenflair“
Einer von 19 deutschen Standorten der Evonik Industries AG ist der Chemiepark Marl im nördlichen Ruhrgebiet. 2023 begannen dort mehr als 270 junge Menschen eine Ausbildung. Zum unternehmensweiten Ausbildungskonzept gehört es, dass die „Neuankömmlinge“ kurz nach Ausbildungsbeginn auf Einführungsfahrt in die Jugendherberge Düsseldorf fahren. Gemeinsam verbringen sie dort eine Woche, um einander kennen zu lernen, als Teams zusammenzuwachsen und Themen zu besprechen, die über die Lerninhalte der Berufsschule hinausgehen. Teamleiter Rainer Steinkamp und Heiko Kenkmann - beide ausgebildete Industriemeister Chemie mit langjähriger Praxiserfahrung - sind am Standort Marl verantwortlich für die Organisation der Fahrt. Sie berichten im Interview über den Wert dieses besonderen Team-Erlebnisses.
Als Unternehmen müssen Sie dem demografischen Wandel und dem Fachkräftemangel begegnen. Wie wichtig ist die jährliche Azubi-Fahrt als Argument im Wettbewerb um die Fachkräfte von morgen?
Rainer Steinkamp: Zweifellos ist unsere Einführungsfahrt attraktiv und die Azubis erzählen darüber. Und sie unterhalten sich auch in ihrem Bekanntenkreis darüber, dass ihr Arbeitgeber diese Fahrt mit allem, was dazu gehört, bezahlt. Die Jugendherberge Düsseldorf, die ja von der Ausstattung ganz hervorragend ist und von der man schnell in die Altstadt gelangt, ist zudem ein attraktiver Standort. Wenn die Azubis dann über ihre Social-Media-Kanäle Bilder mit dem Fernsehturm posten, dann ist das für Evonik natürlich auch gut. Trotzdem ist die Einführungsfahrt nicht vorrangig wichtig für das Recruiting, sondern ein wichtiger Aspekt unseres Ausbildungskonzepts.
Inwiefern ist die Fahrt für die Ausbildung der neuen Azubis wichtig?
Heiko Krenkmann: Die Einführungswoche in Düsseldorf hilft unseren Ausbilder*innen, die jungen Menschen nicht nur fachlich, sondern auch als Persönlichkeiten kennenzulernen. Ihre sozialen Kompetenzen, ihre Haltungen und ihre Teamfähigkeit einschätzen zu lernen und letztlich auch zu sehen, ob die „Chemie“ auf allen Ebenen stimmt. Schließlich begleiten sie sie während der gesamte Ausbildungszeit.
Wer die Stundenpläne für das Azubi-Training liest, entdeckt Themen wie Nachhaltigkeit und Arbeitssicherheit, aber auch Diversity, Social Media, Ernährung oder eine iPad Rallye. Was besprechen Sie dort?
Rainer Steinkamp: Es geht darum, mit diesem Kick-Off Impulse zu setzen. Danach ziehen sich einzelne Themen durch die gesamte Ausbildung und wiederholen sich auch im Unterricht in der Berufsschule. Die ipad-Rallye ist ein Teamtraining, für das wir die Programmpartner der Jugendherbergen nutzen. Alle anderen Themen entwickeln unsere Ausbilder*innen selbst und holen sich bei Bedarf externe Referent*innen hinzu. Im Lernblock Nachhaltigkeit sprechen wir zum Beispiel über die 17 Social Development Goals (SDG) oder über den Auftrag der chemischen Industrie, Produkte schon im Modelizing daraufhin anzuschauen, wie man sie später auseinanderbauen, recyceln oder ihre Wertstoffe zurückgewinnen kann. An anderer Stelle schärfen wir das Bewusstsein für die Arbeitssicherheit, die für ein Chemieunternehmen existenziell ist. Beim Gesundheits-Coaching geht es natürlich um gesundes Sitzen oder gesundes Essen, aber auch um eine gute Schlafhygiene im Schichtbetrieb oder um die Wirkung stark zuckerhaltiger Getränke wie Energy-Drinks auf das Herz. Als weltweit tätiger Konzern ist Evonik außerdem sehr divers aufgestellt. Dazu schulen wir während der Ausbildung und auch später regelmäßig. Auf so einer Fahrt heißt es aber auch, Diversität konkret zu leben.
Digitalisierung und hybride Techniken beeinflussen auch die Tagungs- und Veranstaltungsbranche. Dennoch bleibt es das Ziel der Jugendherbergen, Gemeinschaftserlebnisse zu ermöglichen. Wie wichtig sind persönliche Begegnungen und Teamerlebnisse aus Ihrer Perspektive?
Rainer Steinkamp: Sehr wichtig. Genau deswegen sind wir hier: Wir suchen den ganz klassischen Gruppenflair, die Interaktion in der Gruppe. Wir sitzen draußen im Stuhlkreis und sprechen über Diversity – dazu brauchen wir keine Power-Point-Folien. Viele unserer Azubis waren nie auf Klassenfahrt. Und jetzt sind sie mit fünf bis sechs fremden Leuten in einem Zimmer und müssen sich da connecten. Sie teilen das Zimmer, ohne die Eigenarten der jeweils anderen zu kennen. Jede*r ist auch körperlich anders drauf, muss aber mit den anderen ein Badezimmer teilen. Das ist aber genau die Interaktion, die soziales Lernen auslöst. Oder beim Mittagessen. Hier geht es um Ordnung und Sauberkeit. Für andere ein Tablet zu holen, den Teller zu nehmen, einen Nachtisch mitzubringen oder einen Saft zu holen. An andere zu denken, Fehler zu akzeptieren oder Ähnliches sind soziale Kompetenzen, die wir auch in der Arbeitswelt brauchen. Auf unserem Programm stehen deshalb auch Teamspiele – auch die ganz klassischen Holz-Spiele mit Baggern und Stecksystemen – bei denen man als Gruppe in unter einer Minute etwas zusammenbauen muss. Es ist gigantisch, was da passiert, welche Dynamik da aufkommt. Und das ist das, was wir herauskitzeln wollen. Das kriegen wir digital nicht hin.
Heiko Kenkmann: Corona war zum Beispiel eine Zeit, in der wir zwei Jahre nicht losgefahren sind. Diese Azubi Gruppen, das stellen wir heute noch fest, sind zwar nicht isoliert, verhalten sich aber als Gruppe anders und haben auch keine echte Gruppendynamik entwickelt. In diesem Jahr identifizieren sich die Azubis jetzt schon viel stärker mit dem Unternehmen. Deswegen: So eine Fahrt ist zwar eine Investition, deren Wertschöpfung sich nicht in Euro messen lässt – doch sie ist in jeder Hinsicht Bildung. Wenn wir so etwas wie diese Fahrt nicht machen würden, dann würde den Azubis einiges fehlen.